Megafonchor

Esso Häuser Echo - Ein Nachruf — 2014

Während des Abrisses der sogenannten Esso-Häuser hat die Hamburger Künstlerin und Performerin Sylvi Kretzschmar Passant*innen, ehemalige Bewohner*innen und die Aktivist*innen einer Bürgerinitiative, die für den Erhalt des Wohnkomplexes kämpfte, interviewt. Das so entstandene Textmaterial ist als Performance, politische Rede und Requiem eindringlich in Szene gesetzt. weiterlesen

[...] Was hier musikalisch, choreographisch inszeniert wird, ist ungeübtes öffentliches Sprechen. Inklusive all der Schüchternheiten und Stockungen, des Nichtweiterwissens und der Wiederholung. Dieses Sprechen findet just an der Schnittstelle von zugleich Notwendigkeit und Vergeblichkeit von Protest statt. Das wiederholte, langgedehnte "... sie ungeheuer zu nerven" gibt eine Richtung vor für "Esso Häuser Echo". Denn ein Kollektivsubjekt, dessen Stimme sich durch das technische Ding des Megaphons kanalisieren würde, wird nicht mehr angenommen. Es bleibt der Protest als Hemmschuh. Ein Echo von jenem französischen Holzschuh, aus dem sich etymologisch das Wort "Saboteur" herleitet. Dass es gelten (und vor allem möglich sein) könnte, Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein geknechtetes Leben führt, daran glaubt so recht kaum einer mehr. Die Teilhabe ist also in gewisser Weise eben jene Artikulation, um die es hier geht. Bis hin zu einer Sequenz kurz vor Schluss, in der der Chor nach wiederholtem "Soweit ist es schon gekommen" die bittere Pointe nachschiebt: "... dass man für eine Tankstelle kämpft".
[…]
"Esso Häuser Echo" ist ein „hilfreicher Anstoß für ein neuerliches Nachdenken über das Verhältnis dieses Bühnendrinnens und jenes Draußens, von dem Bühne ja doch gerne handeln möchte. Alles eine Frage des Kontexts. Ihren haben sich Kretzschmar und Ensemble insofern ertragreich abgesteckt, als der Megaphonchor im vergangenen Jahr tatsächlich Bestandteil jener Anti- Gentrification-Proteste war, den sie hier auf Kampnagel gewissermaßen re-enacten. So wie das Textmaterial des Chorstücks von denen stammt, denen hier die vielbeschworene Stimme verliehen werden soll. Den (nunmehr früheren) Bewohner/innen der (inzwischen geräumten) Häuser.“

Tim Schomacker, nachtkritik.de

Rezensionen

Video: electrosafari

Die Räumung eines innerstädtischen Areals in Hamburg, St. Pauli – mit seinem spezifischen Mix aus Wohnungen, Gewerbe, Clubs und einer als Dorfplatz des Kiezes genutzten Esso-Tankstelle – und die Vertreibung alteingesessener Bewohner haben überregionale Bedeutung erlangt: Sie sind zum Symbol geworden für eine Verflechtung von Immobilienspekulation und Stadtentwicklungspolitik, die an den Bedürfnissen der Bevölkerung konsequent vorbei agiert.

Während des Abrisses der sogenannten Esso-Häuser hat die Hamburger Künstlerin und Performerin Sylvi Kretzschmar Passant*innen, ehemalige Bewohner*innen und die Aktivist*innen einer Bürgerinitiative, die für den Erhalt des Wohnkomplexes kämpfte, interviewt. Das so entstandene Textmaterial ist als Performance, politische Rede und Requiem eindringlich in Szene gesetzt.

Zehn Frauen bilden als Chor eine bewegliche Lautsprecheranlage, die die Argumente der Interviewten gezielt plaziert. Gemeinsam gesprochene Worte, Parolen und Reflexionen werden durch Megaphone verstärkt, die gleichzeitig auch als Musikinstrumente und als skulpturale Objekte zum Einsatz kommen. Der Megafonchor singt mit den geisterhaften Stimmen eines verschwundenen Ortes. Manchmal entsteht so etwas wie eine konkrete Poesie des politischen Widerstands. Ein Aufeinandertreffen von Agitprop mit den Gestaltungsmittel modernistischer und autonomer Klangkunst.

  • Idee, Choreografie, Performance: Sylvi Kretzschmar
  • Performance: Heike Noeth, Ann-Kathrin Quednau, Liz Rech, Regina Rossi, Annika Scharm, Verena Brakonier, Anne Brüchert, Doreen Grahl, Andrea Hantscher, Anja Winterhalter
  • Komposition, Chorgesang: Christine Schulz
  • Choreografische Recherche: Camilla Milena Fehér
  • Musik: SKILLS Camilla Milena Fehér & Sylvi Kretzschmar
  • Kostüme: Simone Balüer
  • Assistenz: Annika Scharm
  • Produktionsleitung: ehrliche arbeit - freies Kulturbüro
  • Produktion: Sylvi Kretzschmar
  • Koproduktion: Kampnagel Hamburg
  • Gefördert durch die Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und das Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe
  • Dank an Initiative Esso Häuser und GWA St. Pauli
  • Logo Kulturbehörde Hamburg
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[...] Was hier musikalisch, choreographisch inszeniert wird, ist ungeübtes öffentliches Sprechen. Inklusive all der Schüchternheiten und Stockungen, des Nichtweiterwissens und der Wiederholung. Dieses Sprechen findet just an der Schnittstelle von zugleich Notwendigkeit und Vergeblichkeit von Protest statt. Das wiederholte, langgedehnte "... sie ungeheuer zu nerven" gibt eine Richtung vor für "Esso Häuser Echo". Denn ein Kollektivsubjekt, dessen Stimme sich durch das technische Ding des Megaphons kanalisieren würde, wird nicht mehr angenommen. Es bleibt der Protest als Hemmschuh. Ein Echo von jenem französischen Holzschuh, aus dem sich etymologisch das Wort "Saboteur" herleitet. Dass es gelten (und vor allem möglich sein) könnte, Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein geknechtetes Leben führt, daran glaubt so recht kaum einer mehr. Die Teilhabe ist also in gewisser Weise eben jene Artikulation, um die es hier geht. Bis hin zu einer Sequenz kurz vor Schluss, in der der Chor nach wiederholtem "Soweit ist es schon gekommen" die bittere Pointe nachschiebt: "... dass man für eine Tankstelle kämpft".
[…]
"Esso Häuser Echo" ist ein „hilfreicher Anstoß für ein neuerliches Nachdenken über das Verhältnis dieses Bühnendrinnens und jenes Draußens, von dem Bühne ja doch gerne handeln möchte. Alles eine Frage des Kontexts. Ihren haben sich Kretzschmar und Ensemble insofern ertragreich abgesteckt, als der Megaphonchor im vergangenen Jahr tatsächlich Bestandteil jener Anti- Gentrification-Proteste war, den sie hier auf Kampnagel gewissermaßen re-enacten. So wie das Textmaterial des Chorstücks von denen stammt, denen hier die vielbeschworene Stimme verliehen werden soll. Den (nunmehr früheren) Bewohner/innen der (inzwischen geräumten) Häuser.“

Tim Schomacker, nachtkritik.de

[...] Wie Klageweiber sehen die Frauen aus, wenn sie abwechselnd auf den Boden und den eigenen Brustkorb schlagen. Die Megaphone verwandelten sich in ihren Händen wahlweise in eine Waffe, einen bedrohlichen Schlund oder mahnende Glocken. Suchend nach unten getragen, sehen sie aus wie Geigerzähler, die den Grad der (gesellschaftlichen) Vergiftung melden könnten.

DEF, Hamburger Morgenpost